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§ 74

Auslegung der Geschäftsordnung

(1) Während einer Sitzung auftauchende Fragen zur Auslegung der Geschäftsordnung entscheidet die Präsidentin oder der Präsident.

(2) Eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Auslegung einer Vorschrift der Geschäftsordnung kann nur der Landtag nach Prüfung durch den Innen- und Rechtsausschuß beschließen.

Kommentar

1. Zur Bedeutung der Bestimmung

§ 74 befasst sich mit der Zuständigkeit für Entscheidungen, durch die Zweifel bei der Auslegung von geltenden Geschäftsordnungsregelungen geklärt werden. Nicht umrissen werden dagegen die Kriterien, nach denen bei der Auslegung vorzugehen ist.

2. Materielle Auslegungsregeln

Die Qualifizierung der Geschäftsordnung als autonome Satzung legt es nahe, auf die üblicherweise bei der Interpretation von Normen angewandten Auslegungsmethoden zurückzugreifen. Danach ist maßgebend der in der Vorschrift zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Normgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Bestimmung (grammatische Auslegung), aus dem Sinnzusammenhang, in dem die Bestimmung steht (systematische Auslegung), und aus dem Zweck der Bestimmung (teleologische Auslegung) ergibt. Die Entstehungsgeschichte einer Norm kann unterstützend oder zur Behebung letzter Zweifel berücksichtigt werden (vgl. Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Einf. RN 8 ff.).

Diese Methoden lassen sich indessen nur mit Abstrichen übertragen, weil Wesen und Aufgabe der Geschäftsordnung (Sicherung des geordneten Funktionierens des Parlaments im Staats- und Verfassungsleben; Regelung des Verfahrens für die Abwicklung der Parlamentsgeschäfte) die Anwendung besonderer Grundsätze verlangen. So sind etwa bei der Auslegung der Geschäftsordnung die parlamentarische Tradition und Praxis mit heranzuziehen, wie sie durch die historische und politische Entwicklung geformt worden sind (BVerfGE 1, 144, 148 f.). Die Auslegung und Anwendung der Geschäftsordnung muss ferner stets auf das Ziel gerichtet sein, ein faires, loyales und praktikables Verfahren zu gewährleisten. Zugleich ist zu beachten, dass dem Bemühen um eine Realisierung des Schutzes parlamentarischer Minderheiten – seit jeher ein wesentliches Anliegen nicht nur der Geschäftsordnungen, sondern gerade auch der Landesverfassung (vgl. Artikel 18, 24, 29 LV) – ein bedeutender Stellenwert zukommt. Schließlich kann es für die Auslegung nicht ohne Belang sein, dass bei der Geschäftsordnung Satzungsgeber und Adressatenkreis identisch sind. Diese Besonderheit rechtfertigt es in sehr viel weiterem Umfang als bei anderen Normen, auf die Materialien zurückzugreifen, die Aufschluss über die Entstehungsgeschichte und den historischen Willen des Geschäftsordnungsgebers bieten.

Eine an den Eigenarten der Materie orientierte Auslegung kann es freilich immer nur bei solchen Vorschriften der Geschäftsordnung geben, die ausschließlich dem autonomen Parlamentsrecht zuzurechnen sind. Etwas anderes muss für Normen gelten, die wörtlich oder dem Inhalt nach Bestimmungen der Verfassung oder anderer Gesetze wiederholen. In diesen Fällen muss Ziel der Auslegung die Konformität der betreffenden Geschäftsordnungsbestimmungen mit dem höherrangigen Recht sein, das Maßstab für das Verständnis der jeweiligen Vorschrift der Geschäftsordnung ist.

3. Auslegungszuständigkeit

Die Zuständigkeit zur Auslegung liegt gemäß § 74 in unterschiedlichen Händen, je nachdem, ob es sich um während der Sitzung auftauchende Fragen (Absatz 1) oder um grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Probleme handelt (Absatz 2).

3.1  Liest man Absatz 1 isoliert – d. h. ohne Berücksichtigung der in Absatz 2 getroffenen Regelung –, so wäre das Ergebnis, dass während einer Sitzung jeder auftauchende Zweifel über die Auslegung der Geschäftsordnung von der Präsidentin oder vom Präsidenten zu entscheiden ist. Das müsste auch dann gelten, wenn es sich um grundsätzliche Fragen handelt, die über den Einzelfall hinaus für die weitere parlamentarische Praxis von Bedeutung sein können. Zweifel an der Richtigkeit dieses Ergebnisses ergeben sich, wenn man Absatz 2 in die Betrachtung einbezieht. Wenn dort für „eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Auslegung einer Vorschrift der Geschäftsordnung“ eine andere Zuständigkeit, nämlich die des Landtags, begründet wird, dann liegt die Annahme nahe, dass die Kompetenz der Präsidentin oder des Präsidenten nach Absatz 1 diesen Bereich nicht mit umfasst. In der Praxis ist § 74 zum Teil in diesem Sinne ausgelegt worden (Sten. Ber. 4. WP, S. 595, 863). Absatz 1 kann indessen seiner Funktion, das parlamentarische Verfahren von unnötigen Geschäftsordnungsdebatten zugunsten einer sachgerechten Aufgabenwahrnehmung zu entlasten, nur dann gerecht werden, wenn man der Präsidentin oder dem Präsidenten das Recht zugesteht, auch während einer Sitzung auftauchende grundsätzliche Auslegungsfragen zu entscheiden (vgl. Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, § 128 GO-BT, RN 11.1).

Damit ist freilich nicht gesagt, dass die Präsidentin oder der Präsident in allen Fällen und ohne jeden Unterschied verpflichtet ist, während einer Sitzung auftauchende Zweifel über die Auslegung der Geschäftsordnung selbst zu entscheiden. Die Entscheidung der Präsidentin oder des Präsidenten ist zwar der Regelfall. Absatz 1 schließt es jedoch nicht aus, dass die Präsidentin oder der Präsident unter besonderen Voraussetzungen die Entscheidung eines Auslegungsproblems – nach Prüfung des Innen- und Rechtsausschusses – dem Haus überlässt. Ob sie oder er den einen oder anderen Weg beschreitet, liegt in ihrem oder seinem pflichtgemäßen Ermessen (vgl. Troßmann, aaO., § 128 GO-BT, RN 3, 11.2).

3.2  Von diesem Verständnis des Absatzes 1 ausgehend ist Absatz 2 so zu interpretieren, dass dieser die Zuständigkeit für eine authentische Interpretation regelt, die nicht Auslegung im Einzelfall gemäß Absatz 1 ist. Dabei ist das Gewicht des Auslegungsproblems ohne entscheidende Bedeutung. Voraussetzung ist lediglich, dass entweder außerhalb einer Sitzung ein zu klärendes Auslegungsproblem aufgetreten ist oder dass während einer Sitzung Zweifel über die Auslegung der Geschäftsordnung entstehen, deren Klärung die Präsidentin oder der Präsident dem Plenum überlassen will. Ein Anwendungsfall des Absatzes 2 ist darüber hinaus dann gegeben, wenn eine Sitzung aufgrund eines entsprechenden Geschäftsordnungsantrages unterbrochen wird, um ein im Laufe der Beratung im Zusammenhang mit der Auslegung der Geschäftsordnung entstandenes Problem klären zu lassen (vgl. Troßmann, aaO., § 128 GO-BT, RN 11.3, § 129 GO-BT, RN 4). Anzumerken bleibt, dass es zu einem Verfahren gemäß Absatz 2 vor allem auch dann kommen kann, wenn die Präsidentin oder der Präsident außerhalb des durch Absatz 1 umschriebenen Bereichs die Prüfung einer bestimmten Frage anregt oder wenn der Innen- und Rechtsausschuss von seinen Rechten gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 Gebrauch macht (vgl. Troßmann, aaO., § 129 GO-BT, RN 4).

Das durch Absatz 2 vorgeschriebene Verfahren gliedert sich in zwei Stadien: Erforderlich ist zunächst eine Prüfung durch den Innen- und Rechtsausschuss. Der Ausschuss unterbreitet in der Regel dem Plenum in einem Ausschussbericht eine Empfehlung. Ein solcher Ausschussbericht ist indessen keine unerlässliche Bedingung für eine Auslegungsentscheidung des Landtags, weil Absatz 2 lediglich von einer „Prüfung durch den ... Ausschuß“ spricht (Troßmann, aaO., § 129 GO-BT, RN 7). Nach Prüfung durch den Ausschuss erfolgt dann der Beschluss des Landtags.

In der Praxis des Schleswig-Holsteinischen Landtages ist allerdings festzustellen, dass Fragen, die die grundsätzliche Auslegung der Geschäftsordnung betreffen, primär im Ältestenrat erörtert werden.

3.3  Die Auslegung der Geschäftsordnung gemäß § 74 hat unterschiedliche Auswirkungen, je nachdem, ob sie nach Absatz 1 oder nach Absatz 2 erfolgt: Eine Entscheidung gemäß Absatz 1 kann nach entsprechender ständiger Übung zum Entstehen von Gewohnheitsrecht führen, von dem dann nur nach Maßgabe des § 75 abgewichen werden kann. Die Auslegung gemäß Absatz 2 ist Bestandteil des Geschäftsordnungsrechts mit der Folge, dass ein Abweichen immer eines Beschlusses nach § 75 bedarf (vgl. Troßmann, aaO., § 129 GO-BT, RN 5.2).

4. Auslegungszweifel bei Ausschussberatungen

Nicht ausdrücklich geregelt ist die Frage, wie zu verfahren ist, wenn sich im Einzelfall bei Ausschussberatungen Probleme hinsichtlich der Auslegung der Geschäftsordnung ergeben. Absatz 1 ist hier nicht einschlägig, weil er sich nur auf Sitzungen des Landtags bezieht. Man wird insoweit von Folgendem auszugehen haben: Ist die Auslegungsfrage für die Durchführung des dem Ausschuss übertragenen Auftrages von Bedeutung und finden die im Ausschuss vertretenen Fraktionen nicht zu einer einvernehmlichen Lösung, müsste die Beratung des jeweiligen Punktes vertagt und eine Entscheidung gemäß Absatz 2 herbeigeführt werden.

Kommentar zur Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages

Stand: 18. April 2024

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