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20.06.03
15:22 Uhr
CDU

Manfred Ritzek: Entwurf der Europäischen Verfassung - Die Unvollendete von Brüssel

Nr. 275/03 20. Juni 2003


IM SCHLESWIG-HOLSTEINISCHEN LANDTAG
PRESSEMITTEILUNG PRESSESPRECHER Torsten Haase Landeshaus, 24100 Kiel Telefon 0431-988-1440 Telefax 0431-988-1444 E-mail: info@cdu.ltsh.de Internet: http://www.cdu.ltsh.de
Europapolitik TOP 46 Manfred Ritzek: Entwurf der Europäischen Verfassung – “Die Unvollendete von Brüssel” Den Entwurf der Europäischen Verfassung hat der Konvent am 13. Juni, von wenigen Details abgesehen, vollendet. - Können wir behaupten, dass mit der Verabschiedung des Verfassungsentwurfs auf uns ein europäischer Funke übergesprungen ist und die Bürgerinnen und Bürger, von Helsinki über Schleswig-Holstein bis nach Lissabon, mit Spannung die Konventsarbeiten und den Abschluss verfolgt haben?
„Erträumen wir Europa“, so hieß es in der Eröffnungsrede des Konvents. Ist der Traum ausgeträumt? Was ist das Ergebnis dieses Konvents? In welche Verfassung bringen wir Europa? Wir als Landespolitiker müssen fragen: In welche Verfassung bringt uns Europa?
Um das Ergebnis der Beratungen zum Europäischen Verfassungskonvent einigermaßen beurteilen zu können, möchte ich noch einmal die vier Herausforderungen an die Europäische Union verdeutlichen:
Die erste Herausforderung ist: Wir müssen die im nächsten Jahr erfolgende Erweiterung der EU von 15 auf 25 Mitglieder bewältigen. Der Vertrag von Nizza Ende 2000 hat die Europäische Union zwar politisch erweiterungsbereit gemacht, sie aber nicht fähig gemacht, diese Erweiterung auf Dauer zu bewältigen. Es musste eine substantielle Reform, vor allem Vereinfachung der Verträge erfolgen.
Die zweite Herausforderung ergibt sich aus der internationalen Verantwortung. Die Europäische Union ist keine Weltmacht, aber sie hat die Verantwortung einer Weltmacht. Mit dem ökonomischen, dem technologischen Gewicht, auch mit der Zahl der Europäer von fast 470 Millionen Menschen nach der Erweiterung, beeinflusst diese Europäische Union gewollt oder ungewollt Entwicklungschancen, Ressourcentransfers und Stabilität überall in der Welt. Wir müssen dafür sorgen, dass die EU international führbar wird.
Mit der heutigen institutionellen Struktur, mit sich überschneidenden Verantwortlichkeiten, kann sie dieser Forderung nicht gerecht werden.
Die dritte Herausforderung für die Europäische Verfassung sind Regelungen, die in Kernbereiche traditioneller Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten hineinragen. Wenn traditionelle Hoheitsrechte von Ländern aufgegeben werden müssen oder sollen zu Gunsten von Entscheidungen durch die Europäische Union, dann kann und darf das nicht ohne verfassungsgemäße Legitimität geschehen. Die vierte Herausforderung für die Europäische Verfassung betrifft uns unmittelbar. Wir müssen die Akzeptanz der Europäischen Union, die Akzeptanz europäischer Politik, deutlich verbessern. Es ist erstaunlich, wie groß die Attraktivität der Europäischen Union nach außen ist; die Erweiterung zeigt es. Innerhalb der Europäischen Union mangelt es bei den Menschen aber an der Begeisterung. Es gibt viel unberechtigte Kritik an Europa, aber wenn es eine berechtigte Kritik gibt, dann ist es die folgende: Kein normaler Mensch kann verstehen, wer in Brüssel und Straßburg eigentlich wann, was, mit welcher Berechtigung entscheidet.
Das bedeutet, der Konvent hatte die Aufgabe, mit dem Europäischen Verfassungsentwurf die Institutionen effektiver zu gestalten, Entscheidungsverfahren demokratischer und transparenter zu machen und deutlich die Kompetenzbereiche in einer klaren Gliederung festzulegen, nämlich in:
• ausschließliche Kompetenzen der Europäischen Union, wie z.B. beim Außenhandel, • geteilte Kompetenzen zwischen Union und einzelne Länder, wie z.B. beim Binnenmarkt oder der Agrarpolitik und • ergänzende oder auch unterstützende Kompetenzen wie z.B. bei Kultur oder Gesundheit.
Richtschnur für die Zuordnung der Kompetenzen müssen die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sowie die Verpflichtung sein, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu respektieren. Wenn das aber die Richtschnur ist, dann muss es den Mitgliedstaaten auch möglich sein, Kompetenzen von der europäischen Ebene wieder auf die nationale zurückzuverlangen. Die neue Europäische Verfassung darf nicht zur Folge haben, dass noch mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagert werden, ohne dass die Länderparlamente wirklich im Entscheidungsprozeß beteiligt sind. Wir müssen uns aber auch beteiligen.
460 Artikel hat der Entwurf der Europäischen Verfassung. Ob damit alles besser wird, wird sich zeigen. Fragen wir lieber: „Wann endlich wird es gut“? Auf alle Fälle ist der Entwurf der Europäischen Verfassung ein Kompromiss unterschiedlicher Interessen von föderalen Staaten und zentralistisch regierten Staaten, von kleinen und großen, von reichen und ärmeren Staaten. Vielleicht ist es der beste Kompromiss seit den EWG-Verträgen von 1957 in Rom.
Nun zu den Ergebnissen!
Zuzüglich zur Präambel ist der Entwurf in vier Teile gegliedert.
In der Präambel wird die EU als Wertegemeinschaft definiert, die auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe der europäischen Geschichte gründet und daraus ihr Leitbild für die Zukunft gewinnt.
Monatelang wurde um die Aufnahme des Gottesbezuges in die Präambel gerungen, jetzt fehlt er im Entwurf. Es fehlt auch jeder Hinweis auf die christlichen Wurzeln dieses Kontinents. Hier haben sich die deutschen Konventsmitglieder leider nicht durchsetzen können. Auch die Forderung der Ministerkonferenz war damit bisher jedenfalls vergeblich. Allerdings, und das ist positiv zu bewerten, ist die rechtliche, innerstaatliche Stellung der Kirchen in der Verfassung anerkannt worden.
Ein bedeutendes Ergebnis - dokumentiert im ersten Teil mit 57 Artikeln - ist, dass die EU künftig eine eigene Rechtspersönlichkeit sein wird. Dies wird den Abschluss internationaler Verträge erleichtern und die Rolle der EU stärken.
In diesem ersten Teil werden auch die künftige Machtbalance der Institutionen sowie die Kompetenzen geregelt. Der Kompromiss sieht einen hauptamtlichen EU-Ratspräsidenten, einen europäischen Außenminister, eine personell gestraffte Kommission sowie veränderte Beschlussverfahren der Regierungen vor. Der von den großen Staaten geforderte Regierungschef soll von den Staats- und Regierungschefs für eine Amtszeit von 2 ½ Jahren mit der Möglichkeit einer entsprechenden Verlängerung ernannt werden. Er soll hauptsächlich koordinierende Aufgaben bei der Vorbereitung sowie die Leitung der Gipfelkonferenzen wahrnehmen, ohne konkurrierendes Machtzentrum neben dem Kommissionspräsidenten. Als Fernziel ist eine Personalunion zwischen Kommissions- und Ratspräsident möglich.
Das neue Amt des EU-Außenministers mag zwar suggerieren, der Kontinent könne fortan mit einer Stimme in der Welt sprechen. Aber da für bedeutende außenpolitische Entscheidungen, wie Sicherheits- und Verteidigungspolitik, das Vetorecht nicht aufgehoben werden konnte, wird seine Kompetenz stark eingeengt. Dennoch ist diese Position m.M.n. sinnvoll, weil sie doch die bisher getrennten Aufgaben des EU-Außenkommissars Chris Patten und dem Hohen Beauftragten der EU, Javier Solana, zusammenführt.
Die Aussicht, dass Deutschland phasenweise keinen stimmberechtigten Kommissar in die Kommission entsenden wird, ist zumindest gewöhnungsbedürftig. Das kann passieren, wenn ab 2009 im Rotationsverfahren nur noch 15 der zukünftig 25 Kommissare Stimmrecht haben.
Der Kommissionspräsident und die übrigen Kommissare sollen vom Europäischen Rat ernannt, aber vom EU-Parlament gewählt werden. Tatsächlich erhält das Parlament mehr Rechte und Entscheidungsbefugnisse als bisher. Bedeutend ist diesbezüglich auch die Einführung der doppelten Abstimmungsmehrheit im Ministerrat und in der Kommission.
• Damit wird neben der Stimmenmehrheit auch die Gewichtung der Bevölkerung der einzelnen Staaten Grundlage der Entscheidungen sein und • damit wird das Gewicht Deutschlands bei europäischen Entscheidungen deutlich verbessert.
Neben der klaren Aufgabenverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten wird diese Aufgabenverteilung in zwei beigefügten Protokollen zum Subsidiaritätsprinzip und zur Rolle der einzelstaatlichen Parlamente präzisiert. Für Deutschland heißt dies, dass künftig sowohl Bundestag als auch Bundesrat bei vermuteten Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip ein Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof haben.
Für uns im Landtag bedeutet das, dass wir im Parlament frühzeitig über all das unterrichtet werden müssen, was in Europa geschieht. Das gilt auch insbesondere für die Unterrichtung durch die Landesregierung. Das Frühwarnsystem kann nur funktionieren, wenn wir rechtzeitig und umfassend informiert werden. Wir müssen für unser Land wichtige Themen ausreichend im Parlament diskutieren können und alle Möglichkeiten ausnutzen, über den Bundesrat unseren Einfluss bei europäischen Entscheidungen auszuüben, und zwar vor der Verabschiedung der Gesetze im europäischen Parlament. Wir müssen wissen, dass wir nichts zurückbekommen, aber dass wir viel verteidigen können. Und das müssen wir auch tun.
Auch der Ausschuss der Regionen, der besser „Versammlung der Regionen“ heißen sollte, erhält mit der neuen Verfassung ein Klagerecht bei der Verletzung der eigenen Rechte und der Subsidiaritätsrechte. Wir müssen aber auch fordern, dass die Vertreter unseres Parlaments im AdR zu Gesetzgebungsvorschlägen der EU konkrete Änderungsvorschläge machen. Das geht nur, wenn auch die AdR-Vertreterin uns rechtzeitig über Gesetzgebungsmaßnahmen informiert. Wer weiß in diesem Hohen Hause, was im ersten Halbjahr im AdR besprochen wurde?
An dieser Stelle sei einmal die Frage erlaubt, warum unser Landtag nicht auch mal einen Vertreter in die COSAC (Center for Outreach and Services for the Autism Community) entsendet, dem Gremium, in dem die Vertreter der Europaausschüsse der nationalen Parlamente und auch des Europäischen Parlaments regelmäßig zusammenkommen. Deutschland entsendet in dieses Gremium vier Bundestagsabgeordnete und zwei Ländervertreter.
Im zweiten Teil sind in 54 Artikeln die Grundrechte der EU-Bürgerinnen und Bürger aufgeführt, und zwar im Wortlaut der Ende 2000 in Nizza angenommenen Charta der Grundrechte. Damit erhalten die Grundrechte Verfassungscharakter, sie werden rechtsverbindlich und damit einklagbar beim Europäischen Gerichtshof.
Der umfangreichste dritte Teil mit 340 Artikeln, der erst Mitte Juli fertig gestellt sein wird, listet die einzelnen Politikfelder und die Arbeitsweise der Union auf. In weiten Teilen werden bisherige vertragliche Vorschriften in den Verfassungstext übernommen.
Entscheidende Änderungen gibt es jedoch bei den Beschlussverfahren. Das gilt insbesondere für die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen der Regierungen in ca. drei Dutzend Fällen, so z.B. auch bei der Innen- und Rechtspolitik.
Bei der Außen- und Sicherheitspolitik, Wirtschaftspolitik, Steuer- und Sozialpolitik, Asyl- und Einwanderungspolitik gibt es noch gravierende Unterschiede in den Auffassungen, z.T. sicherlich berechtigt, denn hier wird der innerste Kern nationalstaatlicher Kompetenz und Eigenheit berührt.
Der vierte Teil mit verbleibenden neun Artikeln regelt Schlussbestimmungen wie z.B. die Möglichkeit der Verfassungsänderung, aber auch den Austritt aus der EU.
Heute erhalten die Regierungschefs im griechischen Porto Carras den fast vollständigen Entwurf der Europäischen Verfassung vom Konvents-Präsidenten übereicht. Über den Entwurf entscheidet im Herbst eine Regierungskonferenz. Im kommenden Jahr wird er in den Länderparlamenten diskutiert und verabschiedet. Nun muss man auch den Bürgerinnen und Bürgern dieses Vorhaben erklären. Man muss die Menschen dafür gewinnen, Staatsbürger Europas zu werden. - Das ist nicht bis zum Jahresende zu erledigen.
Ein Durchbruch zu ganz Neuem ist der Verfassungsentwurf sicherlich nicht. Aber er ebnet doch einen positiven Weg, weil er die Nichtregierbarkeit der erweiterten Union beendet. Das Charakteristische dieser Einigung ist das Evolutionäre, das niemals Abgeschlossene und vermutlich nie Vollendete.
Wir als Parlamentarier müssen uns auch intensiver um die europäischen Politikfelder kümmern, wo wir eine Mitgestaltungsmöglichkeit über den Bundesrat und über den AdR haben. Wir müssen aber auch intensiv unsere Politikfelder verteidigen. Der Föderalismus- Konvent ist bereits ein Ausdruck dieser Einsicht. Gestalten wir die „Europäische Unvollendete“ mit, aber immer unter der bewussten Verantwortung für unser Land.